„Man geht durch die Hölle“

„Man geht durch die Hölle“

Ein Besuch beim Lüner Elternkreis drogengefährdeter und abhängiger Kinder.

LÜNEN. Als Lisa* die erste Spritze im Bad fand, hatte ihr Sohn eine simple Erklärung. Mama, sagte er, das ist eine Spritze, mit der man Wärmeleitpaste auf Computer-Bauteile aufträgt. Lisas Sohn arbeitete im IT-Bereich. Die Zuhörer lachen über Lisas Anekdote mit der skurrilen Ausrede. Ja, im Lüner Elternkreis drogengefährdeter und drogenabhängiger Kinder wird auch gelacht. Ein Besuch.

Es ist Dienstagabend. In der hellen Küche der Drogenberatungsstelle Lünen sitzen zwölf Erwachsene am Tisch. Man blickt in freundliche Gesichter. Christian schenkt allen Tee oder Kaffee ein. Als säße hier ein Verein beim munteren Kaffeekränzchen. Ehe das Gelächter verhallt über Lisas Sohn, der nicht Computer-Bauteilen Wärmeleitpaste, sondern sich selbst Heroin injizierte, sagt Anna: „Ja, jetzt lacht man darüber.“ Dabei ist das Leben für Eltern drogengefährdeter oder abhängiger Kinder alles, nur bestimmt nicht lustig.

„Ich habe Nächte durchgeheult“, bekennt Sabine. Sie ist Mutter zweier Söhne Ende 30, Anfang 40. Beide haben Probleme mit Drogen, der Ältere ist vielfach abhängig.

Iris erzählt, sie sei kurze Zeit drauf und dran gewesen, die Drogen ihres Sohnes auszuprobieren. „Du willst wissen, was in deinem Kind vorgeht.“ Einige in der Runde nicken verständnisvoll. „Man verliert die Unbeschwertheit“, sagt Lisa leise. „Es ist alles scheiße. Man geht durch die Hölle.“ Ihr 42-jähriger Sohn erhält heute Polamidon als Ersatzstoff für Heroin. „Manchmal hat man keine Lust mehr zu lachen“, sagt mit eindringlichem Blick Petra. Ihr 29-jähriger Sohn hat so lange gekifft, bis er starke Psychosen bekam und nicht mehr schlief. „Man hat einen völlig durchgeknallten Menschen zu Hause, für den man nichts mehr tun kann.“

Der Sohn von Wolfgang und Elke fing mit 15, 16 an, Cannabis zu rauchen. Er schmiss zwei Lehren, „es waren heftige Zeiten, wo er nichts mehr auf die Reihe gekriegt hat“, erzählt Elke. „Die Kifferei wird runtergespielt“, sagt Wolfgang. In der Forschung kursiert dazu passend die Gateway-Hypothese, nach der Cannabis eine Einstiegsdroge für härtere Drogen wie Heroin ist. Zuletzt hat die Zahl der behandlungsbedürftigen Cannabis-Konsumenten in der Region zugenommen. Die Lüner Drogenberatungsstelle betreute 2013 im Nordkreis 72 Klienten regelmäßig (2011: 61).

Das Thema Drogen ist medial präsent. Regelmäßig laufen im Fernsehen Dokumentationen über den Alltag Abhängiger, füllen Reportagen Zeitungsseiten. Die Frage, wie es den Eltern, den Familien der Abhängigen geht, wird oft ausgespart. Also dann, wie geht es den Eltern?

Wenn Petra im Supermarkt von Bekannten diese Frage hört, sagt sie: „Super! Klasse!“ Obwohl es ihr beschissen geht. Und obwohl die meisten in ihrem Ort inoffiziell von der Drogensucht ihres Sohnes wissen. Die sorgenfreie Fassade wird gewahrt. Petra lacht selbst über diese Unehrlichkeit, die nicht ihre Art sei. So wie die Drogen ihren Sohn verändert haben, hat ihr Wesen sich mit verändert.

Auch andere in der Gruppe klammern die Sucht ihrer Kinder selbst im Gespräch mit guten Freunden aus. Ratschläge wie „Den müsst ihr rausschmeißen“ oder „Der muss ohne euch klarkommen“ können die Eltern nicht mehr hören. „Und du willst nicht mehr hören, wie toll die Kinder von anderen sind“, sagt Lisa. „Man sitzt da und wird immer kleiner. Das Selbstbewusstsein leidet.“ Christian nickt. „Die Freunde unseres Sohnes heiraten, kriegen Kinder und führen ein ganz normales Leben.“ Der Satz bleibt im Raum hängen. Normales Leben.
Christian setzt neuen Kaffee auf, kocht Tee-Wasser. Zwei, drei andere drängen zur Zigarettenpause.
Die Gespräche in der Gruppe tun den Eltern gut, sie wühlen aber auch auf.

Entstanden ist der Elternkreis Lünen im Jahr 1988. Damals siedelte sich die 1982 in Kamen gegründete anonyme Drogenberatung zusätzlich in Lünen an. Wie in Kamen gründete sich auch in Lünen ein Elternkreis. Seitdem haben sich viele Eltern hier gegenseitig zugehört, ausgeheult, einander Mut gemacht, auch zusammen gelacht. Ihre Kinder waren mal in Therapie, mal wieder zu Hause; mal hatten sie Arbeit, mal nicht. So ist es bis heute.

Viele kommen schon lange zum Elternkreis, 15, 20 Jahre und länger. So lange, dass sie wissen, dass die Sucht nicht weggeht. „Wir werden die Krankheit unserer Söhne mit ins Grab nehmen“, sagt Sabine. Man bekommt nur eine leise Ahnung davon, was sie durchgemacht hat, wenn sie erzählt, dass einer ihrer Söhne eine Zeit lang auf der Straße gelebt hat. Dass sie zu ihm fuhr, ihm Geld gab, damit er Stoff kaufen konnte. Heute versucht Sabine, „das nicht mehr so sehr an mich heran zu lassen.“ Sie geht ihren Hobbys nach, zieht eine Grenze bei der Fürsorge.

Das klingt abgeklärt. Und doch stellen sich die Eltern hier immer wieder dieselben Fragen. Warum unser Kind? Was haben wir falsch gemacht? Waren wir nicht genug für unsere Kinder da? Gegen diese schlimmen Selbstzweifel, sagt Eva, sei die Gruppe eine Art Strohhalm: „Hier sind Berufstätige, nicht Berufstätige, Reiche, weniger Reiche. Das ist ein Trost. Wir können es ja nicht alle falsch gemacht haben.“

Die Treffen des Elternkreises Lünen finden alle 14 Tage, immer dienstags von 18.30 bis 21.30 Uhr, statt. Die Eltern kommen in den Räumen der Drogenberatungsstelle Lünen, die zur Suchthilfe im Kreis Unna GmbH gehört, zusammen: Münsterstraße 1L (im Lippezentrum).
Kontakt zum Elternkreis (vorherige Kontaktaufnahme erwünscht) gibt es unter:
Tel. (01575) 7 05 89 03
und (0152) 26 66 38 26

Michael.Schnitzler@mdhl.de

* Alle Namen und Altersangaben geändert

Quelle: Ruhr Nachrichten, Lokalausgabe Lünen, 22. Juli 2014.

 

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